
Digital Detox ist so wichtig. Daher kaufe ich mir jedes Jahr ein Ticket für ein Bob Dylan Konzert, denn da muss man sein elektrisches Suchtgerät einmal für drei Stunden wegschließen. In vier E-Mails erinnert mich Ticketmaster in den Tagen zuvor, dass mich ein „phone-free“-Konzert erwartet. Organisatorisch führte dies übrigens zu keinerlei Problemen. So gibt es kein Foto vom Konzert, nur ein KI-Bild nach Beschreibung des Autors.
Dieses Jahr zog es mich nach Lingen in die vergleichsweise junge EmslandArena. Als Alternative hätte es noch die Barclay-Arena in Hamburg oder die Lanxess-Arena in Köln gegeben. Für mich gehört Bob aber nicht in 15.000er oder gar 20.000er Hallen.
Mit Ihren knapp 5.000 Plätzen bietet sie die richtige Größe für einen Auftritt vom Meister, der sich inzwischen immer mehr im Halbdunkel der Bühne bei schummriger Beleuchtung versteckt. Hier gibt es keine LED-Wände oder B-Stages.
Lingen ist zudem in gut einer Stunde bequem über die A30 zu erreichen. In den letzten Jahren etabliert sich die Halle im platten Nirgendwo Norddeutschlands, nördlich von Münster auf der Höhe Amsterdams als ernstzunehmender Konzertort. Im Dezember spielen Kraftwerk dort, auf dem Parkplatz werden wir im nächsten Sommer Nick Cave und die Bad Seeds sehen, Sting und Deep Purple waren auch schon da.
Die Halle ist modern und durchdacht. Die Sitzplätze auf den Tribünen sind im Konzertmodus etwa 10 Grad Richtung Bühne gedreht, der Innenraum ist mit bequemen, gepolsterten Stühlen ausgestattet. Sonst wird hier viel Handball gespielt. Die Preise für Bier und Pommes sind daher erstaunlich human, das Personal extrem freundlich. Aber Vorsicht liebe ostwestfälischen Freunde: Bratwursttechnisch hat man hier irgendeine wichtige Grenze Richtung Norden überschritten: Statt einer Brühwurst vom Grillrost kommt irgendeine Bockwurst aus der heißen Fettpfanne in die Pappschale. Zum Glück frühzeitig erkannt und darauf verzichtet.
Zurück zu Bob. Das Konzert beginnt pünktlich mit I’ll Be Your Baby Tonight, das man aber praktisch nicht erkennen kann, da der Sound, insbesondere Bobs Stimme, grottenschlecht ist. Zum Glück hatte der Mischer das Problem ab dem zweiten Song in den Griff bekommen.
Bob sitzt diesmal hinter einem Flügel, das Piano hat ausgedient. Er steht auch nicht mehr auf für ein Mundharmonikasolo. Nur nach dem letzten Song erhebt er sich kurz, machte ein paar Schritte zur Seite, immer auf den Flügel gestützt und wird dann, nachdem der die Standing Ovations vom Publikum abgenommen hat, im Dunkeln von der Bühne geleitet.
Sonst war es eigentlich wie immer. Anton Fig hat im Vergleich zum Vorjahr Jim Keltner an den Drums ersetzt, sonst bleibt die Band wie gehabt: Tony Garnier am Bass, Doug Lancio und Bob Britt an den Gitarren. Diese Band gibt Bob den sicheren Rahmen, damit er „sein Ding“ machen kann. Während der meisten Zeit stehen sie im Halbkreis um ihn herum, schauen ihm auf die Finger und Lippen, warten auf ein Nicken oder einen Blick, der sie in den nächsten Songabschnitt schickt.
Im Vergleich zu meinem letzten Konzert vor fast genau einem Jahr in Düsseldorf hat sich nur der Eröffnungssong geändert. Eigentlich egal, denn die meisten im Saal wissen eh nicht, was gerade gespielt wird.
Zwischen den Songs bekomme ich aus der Reihe hinter mir folgendes Gespräch zwischen einem offenbar erfahren und einem neuen Dylan-Konzertbesucher mit: „Ich kenne keinen einzigen von den Songs.“ Antwort vom erfahrenen Begleiter: „Doch, Du erkennst sie nur nicht…“
Kein Wunder, denn auch heute klingen die meisten Songs für den ungeübten Konzertgänger wie folgt:
[Längeres Gitarren-Bass Geklimper mit ein paar Piano-Spritzern]
[2-3 laute Piano Akkorde]
After thsss hrnnbmmn nnmmähh hgnnn
Hrmnmnumnnbe on DESOLATION ROOWWWW.
[Publilum applaudiert, weil es den Song erkannt hat]
[Piano-Geklimper]
Was sich geändert hat, ist das Bühnenbild. 2022 sahen wir die die Rough and Rowdy Ways Tour ja bereits ins Berlin. Da gab es quasi drei verschiedene Lichtstimmungen und einen von unten beleuchteten Bühnenboden, der bereits 2024 weggefallen war.
Auf der Bühne dominieren weiterhin die beiden großen Filmscheinwerfer hinten links und rechts auf der Bühne, sowie vier kleinere Filmscheinwerfer, die die Band von vorne seitlich beleuchten. Neben jedem Musiker steht nun hüfthoch eine Kellerdeckenleuchte, die wie alle anderen Scheinwerfer auf der Bühne die Band dezent in ein warmes, goldgelbes Licht tauchen. Bob hat zusätzlich ein kleines LED-Deko-Bäumchen, das man vermutlich auch zur Weihnachtszeit beim JYSK auf dem Grabbeltisch findet. Sie alle werden zum Konzertbeginn einmal hochgefahren und am Ende heruntergefahren. Die Lichtstimmung auf der Bühne selbst bleibt also unverändert.
Dazu kommen aber noch zahlreiche andere, verdeckt angebrachte Scheinwerfer die unmerklich das Umfeld verändern. Vor und nach dem Konzert sieht man, dass hinter der Bühne ein tiefschwarzer, großer Vorhang hält. Links und rechts der Bühne gibt es aus gleichem Material ebenso wie oberhalb der Bühne einen zurückgebunden, bzw. in mehreren Schwüngen gerafften Bühnen-Vorhang. Dieser wird so geschickt beleuchtet, dass der Backdrop inmitten der Show einmal hellblau wirkt, dann wieder rot, im Kontrast dazu wechselt auch die Vorhangbeleuchtung des vorderen Teils und lässt einen plötzlich einen Samtgrünen Vorhang sehen. Durch geschickte Akzentuierung der Kontouren entsteht hier ein gewaltiger Rahmen für die Band, mit dem man gar nicht rechnet, wenn man die Bühne bei normaler Hallenbeleuchtung sieht. Die Farbwechsel verlaufen dabei unmerklich während der Songs. Insgesamt ein schönes Bühnenbild. Da gibt sich jemand Mühe, obwohl es den meisten im Saal vermutlich gar nicht auffällt. Ihnen reicht es, mit dem Meister in einem Raum zu sein.
Nach 17 Songs und 105 Minuten ist es dann auch schon wieder vorbei. Beseelt strömt die Masse nach draußen. Und wie schon die letzten Male frage ich mich: War dies nun mein letztes Dylan Konzert?
Setlist:
I’ll Be Your Baby Tonight
It Ain’t Me, Babe
I Contain Multitudes
False Prophet
When I Paint My Masterpiece
Black Rider
My Own Version of You
To Be Alone With You
Crossing the Rubicon
Desolation Row
Key West (Philosopher Pirate)
Watching the River Flow
It’s All Over Now, Baby Blue
I’ve Made Up My Mind to Give Myself to You
Mother of Muses
Goodbye Jimmy Reed
Every Grain of Sand








